Melanie Lux ist als Selbst-Vertreterin in verschiedenen Gremien aktiv. Sie ist Mitglied im Vorstand der Lebenshilfe Münster, im Lebenshilfe·Rat und im Werkstatt·rat von Westfalenfleiß.
Wir haben Melanie ein paar Fragen gestellt, um sie besser kennen·zu·lernen. In der Eisdiele bestellt sie am liebsten Stracciatella und als leckeres Getränk würde sie euch mal einen Hugo empfehlen. Ihren Urlaub verbringt sie lieber an Strand und Meer als in den Bergen. Schokolade oder Weingummi? Schmeckt beides, findet Melanie. Auf eine einsame Insel nimmt sie eine eigene Wohnung, ein extra großes Bett und ihren Freund mit.
Und welches Tier wäre sie gerne mal für einen Tag? Ein Orca, sagt sie. Weil der überall hin·schwimmen kann und einfach frei ist, ganz ohne Rolli. Und stark ist er auch, dem kann keiner was.
Sesam: Erstmal schön, dass du Zeit hast, mit uns zu sprechen. Wir wollen dich ein bisschen was zur Selbst-Vertretung fragen. Du bist ja recht aktiv in verschiedenen Bereichen. Was machst du alles?
Melanie: Ich setze mich für andere ein, die das vielleicht nicht so hinkriegen. Und ich gucke so ein bisschen auf den Hintergrund, warum das so ist. Oder ich spreche mit den Leuten und sag denen dann: Nur, weil du ein Handicap hast, musst du dich nicht handicappen lassen. Ganz oft ist es die Barriere der anderen im Kopf, dass du denkst: Ich hab jetzt 'ne Bordstein·kante, da komm ich nicht alleine hoch. Oder zum Beispiel: Mein Handicap ist für mich nicht so wichtig, weil ich das nicht so wahrnehme. Ich hab genug Leute, die mir helfen oder wo ich sagen würde, ich kann im Notfall jemanden fragen. Was ich zum Beispiel in Münster irgendwie doof finde: Münster ist so alt und hat so viel Kopf·stein·pflaster. Und da landest du halt ganz oft mit dem Roll·stuhl in den Lücken von dem Kopf·stein·pflaster und dann kommst du alleine nicht mehr raus.
Sesam: War das auch ein Grund, warum du dich entschieden hast, Selbst-Vertretung zu machen? Um Sachen zu verbessern?
Melanie: Ja, um Sachen anzuschieben. Denn was hab ich davon, wenn immer andere über mich reden? Über die Menschen mit Behinderungen, aber nicht ein Mensch, der selber das Problem hat? Warum soll ich mir von der Politik sagen lassen: So, das muss ich jetzt machen, damit es mir gut geht. Aber die wissen gar nicht, worum es geht. Die sind ja nicht dabei im Alltag.
Sesam: Um dann also so ein Sprach·rohr zu sein? Um das zu vermitteln?
Melanie: Genau.
Sesam: Wo hast du denn zum ersten Mal Selbst-Vertretung gemacht? Wie hat das angefangen?
Melanie: Angefangen habe ich, glaube ich, 2009 in der Lebenshilfe. Da hab ich mich in den Vorstand von der Lebenshilfe wählen lassen.
Sesam: Du bist direkt in den Vorstand gegangen? Oder hattest du schon was gemacht in dem Bereich?
Melanie: Ja, also ich war vorher schon im Lebenshilfe·Rat. Ich bin dann von den Leuten vom Lebenshilfe·Rat direkt in den Vorstand gewählt worden. Und das war bei mir halt das Besondere, dass ich das als erste Frau mit Behinderung gemacht habe. Ende letzten Jahres war ich als Selbst-Vertreterin mit Frau Langenkamp in Köln bei der dortigen Lebenshilfe und hab mir da mal alles angeguckt. Damit ich mir mal andere Lebenshilfen auch angucke, weil ich ja nur Münster kannte.
Sesam: Und weil die in Köln gesagt haben, das ist was Besonderes, was du in Münster machst, haben die dich eingeladen?
Melanie: Deswegen haben die mich eingeladen.
Sesam: So Vorstands·arbeit kennen ja die meisten Menschen nicht. Viele waren ja wahrscheinlich noch nie in einem Vorstand. Was macht man da?
Melanie: Ja, was macht man da? Man redet viel, man sitzt viel zusammen, man guckt sich Sachen an. Zum Beispiel: In Münster gab es früher so Luft·pumpen, die in der Stadt standen. Das Problem war aber, dass die Luft·pumpen nur für Fahrrad·schläuche gepasst haben, aber die hatten kein Ventil für den Roll·stuhl. Und dann hab ich gesagt: Was macht jetzt ein Roll·stuhl·fahrer, wenn er unterwegs einen Platten hat und keine Luft·pumpe? Und dann haben wir das ganz oft angesprochen.
Sesam: Das ist also ein Thema, was dich selbst auch beschäftigt hat?
Melanie: Ja, weil ich halt mit dem Roll·stuhl auch alleine weiterkommen muss und nicht immer jemanden dabei habe, der mich hier und da hin schieben kann.
Sesam: Und jetzt bei der Vorstands·arbeit, ist da Barriere·freiheit auch dein Thema? Oder geht's da dann um Themen in der Lebenshilfe selbst? Was bespricht man da so?
Melanie: Alles, alles. Welche Gelder es gibt. Ob man für die Ausflüge das Budget hat. Wann die Freizeiten feststehen und wann die Hefte dafür rauskommen. Oder es gibt ja auch Wohn-gruppen von der Lebenshilfe. Da geht es dann um Wohn·raum in Münster. Und ich kann euch sagen: Wir dürfen natürlich nicht alles erzählen. Also wenn bei einem Thema gesagt wird, da dürfen wir nicht drüber reden, dann wird das auch nicht gemacht. Aber es geht halt insgesamt um alles, was so im Alltag wichtig ist.
Sesam: Ich stell mir das durchaus schwer vor, dann alles geheim zu halten.
Melanie: Nee, das ist kein Problem.
Sesam: Du hast ja schon erzählt, dass ihr euch mit sehr vielen verschiedenen Themen beschäftigt. Wie behältst du den Überblick?
Melanie: Ich hab natürlich ein Handy und einen Kalender, wo alles drin steht. Sonst würde mein Kopf irgendwann explodieren.
Sesam: Was passiert denn in so einer Vorstands·sitzung? Gibt es da sowas wie eine Tages·ordnung?
Melanie: Ja, das muss es. Es gibt eine Tages·ordnung, einen Schrift·führer, jemanden für die Finanzen, alles.
Sesam: Hast du auch so eine spezielle Aufgabe?
Melanie: Ich bin einfach nur dabei und höre mir alles an und sage den Leuten: Find ich gut. Find ich nicht gut. Kann ich nichts zu sagen. Also so grob angerissen – ich darf ja, wie gesagt, nicht über alles reden.
Sesam: Für Leute, die jetzt gar nicht wissen, wie so eine Sitzung abläuft, was passiert denn da?
Melanie: Also man kommt rein, setzt sich hin und dann sitzen wir da mit, ich glaube, neun Leuten zusammen. Und dann hat jeder so seine Aufgabe. Ich soll zum Beispiel immer erzählen, was war denn jetzt zum Beispiel im Lebenshilfe·Rat los, was gibt's da Neues. Und dann fragen die vom Lebenshilfe·Rat mich andersherum auch wieder, was war im Vorstand los und dann arbeiten die zusammen. Ich bin halt in beiden Gremien drin und kann so von beiden Seiten draufgucken.
Sesam: Und wenn ihr dann Themen besprecht, seid ihr euch da immer einig oder gibt's auch mal Diskussionen oder Streit?
Melanie: Natürlich gibt's auch Diskussionen. Sonst wäre es langweilig. Aber Streit gibt's eigentlich nicht. Also man redet drüber und sagt: Find ich gut. Find ich nicht gut. Geht so. Hab ein komisches Bauch·gefühl. Das hatten wir auch schon. Aber ich sag mal, das ist überall so. Ich meine, in jedem Betrieb hat man es mal so, dass man denkt: Ich mach das jetzt, obwohl es nicht so super ist – Aber wenn ich jetzt nicht mache, wird's noch schlimmer.
Sesam: Wenn ihr mal nicht einer Meinung seid, wie kommt ihr dann zu einer Lösung, zu einer Entscheidung?
Melanie: Abstimmen. Das ist wie in einer Partei. Wenn ich denke: Was Herr XY macht find ich Mist, dann sag ich das. Und wenn ich denke: Was Frau XY macht, find ich ganz toll, dann sag ich das auch.
Ich muss da auch nix zu sagen. Ich kann dann mit Hand·zeichen sagen: ja – nein – weiß nicht. Also enthalten kann ich mich auch.
Sesam: Habt ihr mal irgendwann was entschieden, wo du nachher gedacht hast, da hätten wir anders entscheiden sollen?
Melanie: Nein. Da musste ich jetzt aber auch lange überlegen, nein.
Sesam: Also hast du das Gefühl, die Entscheidungen, die du bisher getroffen hast in deinem Job, waren die richtigen?
Melanie: Ja. Ja, doch.
Sesam: Wenn ihr zusammenarbeitet, gibt es da eine besondere Unterstützung, die du bekommst?
Melanie: Ja klar, ich krieg von allen ein bisschen Hilfe. Zum Beispiel haben wir eine IT-Frau, die auch die Presse macht, Katharina Könning. Und die Doris Langenkamp hilft mir ganz viel. Und zum Beispiel, wenn die Technik streikt – also wenn der PC mal wieder abstürzt oder die Kamera nicht funktioniert –, während wir eine Video·konferenz machen, dann sag ich: »Katha, kannst du mal schnell kommen? Das Bild ist schon wieder weg.« Sowas zum Beispiel. Aber die machen das für mich, denn ich kann das nicht.
Sesam: Das heißt, ihr habt dann auch während Corona gemeinsame Sitzungen online gemacht?
Melanie: Genau, mit Abstand, aber wir haben uns dann ja über den PC gesehen. Als Corona so akut war, ging das natürlich nicht in Präsenz. Und dann haben sie mich gefragt, ob ich mir das vorstellen könnte, eine Video·konferenz zu machen und da hab ich gleich gesagt: »Ja, kann ich mir wohl vorstellen. Aber ihr müsst dafür sorgen, wie ich von A nach B komm«. Weil ich habe keine Chance das bei mir im Wohn·heim zu machen. Da ist das Internet nicht so gut. Und dann haben die mich dahin gefahren und nach zwei Stunden wurde ich wieder nach Hause gefahren.
Sesam: Super, dass das so funktioniert hat.
Melanie: Wenn ich nicht so ein neugieriger Mensch wär, würde ich das alles nicht machen.
Sesam: Das ist ein guter Punkt. Was braucht man denn für Eigenschaften als Selbst-Vertreterin?
Melanie: Was braucht man als Eigenschaft? Hm, man braucht, glaube ich, ein gutes Ohr für jeden anderen. Man braucht aber auch gleichzeitig die Fähigkeit, zu sagen: »Ich kann jetzt gerade nicht, aber ich komme gleich zu dir.« Weil manchmal ist es so, dass plötzlich drei Leute auf einmal was von dir wollen. Und es ist wichtig zu fragen, wie geht's dir, und auch zu überlegen, wie geht's mir selbst gerade. Und man muss auch drauf achten, wie man bei anderen rüberkommt. Ich bin ja auch im Werkstatt·rat. Aber ich bin natürlich nicht nur Werkstatt·rätin, sondern auch ganz normale Beschäftigte. Und wenn bei der Arbeit jemand zum dritten Mal mit demselben Problem zu mir kommt, dann nervt das auch mal. Aber das darf ich dann nicht so nach außen zeigen.
Sesam: Das heißt, man muss da so ein bisschen trennen zwischen der Arbeit und dem Ehren·amt.
Melanie: Man muss gucken, dass man nicht genervt rüber·kommt, auch wenn man mal genervt ist. Aber dann hat man auch wieder so Tage wie heute, wo mir das einfach Spaß macht. Wo ich dann sag: Heute ist ein guter Tag, heute kann ich das! Und morgen kann das schon wieder anders sein, weil ich dann schon wieder andere Sachen im Kopf hab. Ich bin ja auch nur ein Mensch. Und wenn jemand mit einem Problem kommt und ich kann das gerade nicht lösen, dann darf ich, finde ich, auch mal sagen: »Mir geht's selbst auch nicht gut damit, aber ich kann's gerade nicht ändern.«
Sesam: Jetzt haben wir als Eigenschaften ein offenes Ohr für andere haben, Arbeit und Privates trennen, sich selbst auch mal zurückzunehmen und sich abgrenzen können. Gibt es noch mehr Dinge, die man so braucht, als Selbst-Vertreterin?
Melanie: Ich weiß gar nicht. Ja, den Mund aufmachen.
Sesam: Ja, auch eine gute und wichtige Eigenschaft: Den Mund aufmachen und seine Meinung sagen.
Melanie: Ja, aber auch nicht zu viel. Man muss schon immer dran denken: Wenn man sein Gesicht in eine Kamera hält, muss man nachher auch damit leben. Und manchmal muss man Sachen auch durchboxen können, hartnäckig bleiben. Man darf sich nicht sofort ins Boxhorn jagen lassen. Man muss sagen können: »Ich hab jetzt aber gesagt, ich mach das, und dann mach ich das! Und wenn dir das nicht passt, ist das dein Problem!« Aber du musst trotzdem irgendwie versuchen, freundlich zu bleiben. Du musst halt aufpassen, wie du das verkaufst.
Sesam: Was möchtest du als Selbst-Vertreterin so erreichen für die Menschen, die Welt?
Melanie: Also für die Welt insgesamt würde ich mir wünschen, dass es weniger Krieg gibt. Dass es weniger Leute gibt, die meinen, sie müssten mit ihrem Welt·bild alles andere an sich reißen. Das passiert ja leider gerade viel.
Sesam:Das heißt, du hast auch allgemein ein politisches Interesse daran, dass es der Welt und den Menschen besser geht (...)
Melanie: Dass es der Welt und den Menschen gut geht und dass keiner dem anderen irgendwas wegnimmt. Dass es fair zugeht und nicht korrupt.
Sesam: Wenn jemand jetzt neu anfangen würde im Werkstatt·rat oder im Vorstand zu arbeiten, was würdest du der Person empfehlen? Wie fängt man am besten an?
Melanie: Man versucht erstmal sich da rein zu arbeiten und es ist wichtig, sich die Neugier zu behalten. Dass man nicht nach einem Tag sagt: »Ach, heute war's aber langweilig, jetzt geb ich wieder auf«. Es gibt Tage, die sind einfach und da ist's gut und dann gibt's wieder Tage, die sind zäh. Aber wenn du dran bleibst, lohnt es sich.
Sesam: Das heißt, neugierig bleiben und sich ein bisschen durch·beißen.
Melanie: Ja, sehr durch·beißen teilweise.
Sesam: Hattest du schon mal so Frust·momente, wo du nicht weitergekommen bist? Wo du dich richtig durch·beißen musstest?
Melanie: Nicht was den Vorstand angeht, aber in der Werkstatt schon. Also zum Beispiel, wenn man so das Gefühl hat, dass man an der Chef·etage vorbei·arbeitet und der Werkstatt·rat nicht so ernst·genommen wird vielleicht.
Wir haben ja bei einigen Themen mittlerweile eine Mit·bestimmung. Aber eine Mit·bestimmung ist eben keine Selbst·bestimmung. Das heißt, wir können jetzt sagen, »Wir wollen da aber mit·reden.«, und die sagen dann aber vielleicht von oben trotzdem »Nein«. Oder die entscheiden dann was anderes. Und dann muss man wieder hoch·gehen und sagen »So geht das aber nicht«. Das muss dann aber der erste Vorsitzende machen.
Sesam: Wie oft trefft ihr euch eigentlich?
Melanie: Also der Werkstatt·rat trifft sich so einmal im Monat. Wir kriegen dann immer Post und da steht das Datum für die nächste Sitzung drin.
Sesam: Und im Lebenshilfe·Rat und Vorstand, wie oft trefft ihr euch da?
Melanie: Ich glaube, so alle zwei bis drei Monate. Und beim Werkstatt·rat ist es so: Hier geht das über Tag, also von morgens bis mittags meistens. Das heißt, wir fangen um halb zehn an und machen dann durch bis wir fertig sind. Das kann auch schon mal zwei oder drei Uhr nachmittags werden. Kommt immer drauf an, was so für Themen auf dem Tableau sind. Das ist im Vorstand auch so. Aber da treffen wir uns abends, weil die meisten noch länger arbeiten vorher und da geht's nicht vor halb acht. Ich komme dann aber meistens schon um sechs und bin dann schon in der Vorbereitung dabei.
Sesam: Danke für den spannenden Einblick in deine Arbeit! Wir haben auf jeden Fall ganz viel erfahren, was wir vorher noch nicht wussten.